Macht Erziehung unsere Kinder Unglücklich?

Oh, wow! Mit dieser Frage begebe ich mich hier gerade wirklich auf ganz dünnes Eis. Gerade bei bindungs- oder bedürfnisorientierter „Erziehung“ wird der Begriff „Erziehung“ schon länger aus dem Wortschatz verbannt. Viel mehr möchten Bindungsorientierte den Rahmen ihrer Elternschaft „Beziehung“ nennen. Schließt „ERziehung“ eine „Beziehung” also aus? Ist Erziehung schlecht? Und was verstehen wir überhaupt darunter. Einige dieser Fragen möchte ich heute für Euch reflektieren und Euch meine Ansicht dieses schwierigen Themas erklären.

Was ist Erziehung?

Für den Begriff Erziehung gibt es vermutlich ebenso viele Definitionen wie es Vorstellungen von Erziehungsmethoden gibt. Oft verstehen wir Erziehung als eine wichtige Grundlage unserer Elternschaft. „Kinder brauchen Grenzen“ heißt es. „Sie müssen sich benehmen lernen.“ Kurz gesagt: Wir wollen, dass Kinder ihr Verhalten so anpassen, dass es für uns Erwachsene möglichst angenehm ist, unseren Wert- und Moralvorstellungen entspricht. Und genau da kommen wir schon an den Punkt, an dem sich die Meinungen spalten. Denn wie „Grenzen“ aussehen und was für uns ein „gut erzogenes“ Kind ist, dazu gibt es unzählige verschiedene Vorstellungen. Es fängt schon nach der Geburt an. Wie viel Nähe braucht das Baby. Die einen werden sagen: trage es den ganzen Tag eng am Körper, das stärkt die Bindung, schafft Urvertrauen und gibt Sicherheit. Die anderen warnen: Du verwöhnst es, es muss lernen, sich alleine zu beruhigen.“

 

Wenn es ums Schlafen geht, stehen wir vor dem nächsten Zwiespalt. „Leg es doch zu Dir ins Bett“, sagen die einen. Die anderen befürchten in Zukunft mangelnde Selbstständigkeit und beharren darauf, dass Kinder im eigenen Bett schlafen müssen. Die erzieherischen Fragen sind endlos. Wie lange soll gestillt werden, welche Babykurse sollte man besuchen, wie wird die Beikost eingeführt und was mache ich bei Wutanfällen? Sind die normal oder muss ich genau JETZT Grenzen aufzeigen? Und viele Eltern haben schlichtweg Angst. Angst, etwas falsch zu machen. Nicht genug zu fördern, nicht genug Liebe zu geben. Oder vielleicht zu viel Liebe, zu viel Nähe, zu wenige Grenzen. Bedeutet Erziehung, dass ich meinem Kind einen Stempel aufdrücke, es in einen Verhaltens-Rahmen sperre und ihm keine Freiheiten lasse?

Wie viel Erziehung ist notwendig?

Jeden Tag leiten wir unsere Kinder an. Wir zeigen ihnen, wie sie Dinge zu tun haben und welche Dinge sie definitiv sein lassen sollten. Bei gewissen Dingen finde ich ein solches Korrigieren von Fehlverhalten durchaus sinnvoll. Wer möchte schon, dass das Kind auf die Straße rennt, auf die Herdplatte fasst oder sich am spitzen Messer verletzt? Ein gewisser Rahmen mit Leitlinien, obwohl sie eine Einschränkung bedeuten, ist meines Erachtens also durchaus notwendig.
Aber was ist mit all den Kursen und Ratgebern und Förderprogrammen, die pädagogisch sinnvoll sein sollen obwohl sie dem Kind vielleicht gar keinen Spaß machen? Muss mein Kind unbedingt musikalisch werden oder liegen seine Talente vielleicht ganz wo anders? Klar, dass alle Eltern nur wollen, dass ihr Kind glücklich ist. Ich glaube daher kommt auch die große Angst, etwas falsch zu machen. Aber kann und darf ich mein Kind zu meiner Vorstellung des Glücks erziehen?

Schluss mit Lustig, Du bist kein Baby mehr!

Bei den meisten verhält es sich doch so: Als Baby hat man völlige Narrenfreiheit. Wenn das Kleine laut pupst und ein Bäuerchen macht, finden das alle süß. Sobald es dieses Verhalten versteht und vermeintlich kontrollieren also einhalten kann, ist es aber nicht mehr süß sondern unerhört und soll bitte unterlassen werden. Laut weinen, meckern, mit Essen werfen, in der Nacht Kuscheleinheiten fordern, nach Bedarf trinken und essen – Als Babys dürfen unsere Kinder alles.

Und plötzlich ist es vorbei mit dieser Freiheit. Erziehung beginnt. Sie hören das erste mal „Nein“, lernen schnell, was dieses Wort bedeutet. Kleinkinder nehmen wir schnell völlig anders wahr. Sie wachsen, sie entwickeln sich rasend schnell zu kleinen Persönlichkeiten mit ganz individuellen Stärken und Eigenarten. Und was machen wir: wir ändern die Spielregeln. Jetzt sollen sie nett sein, lieb und leise. Sie sollen zuhören und sitzenbleiben, sich benehmen und Regeln befolgen. Und dann sind wir überrascht, wenn unsere Kinder, die gerade nicht verstehen, wie sich so schnell alle Bedingungen ändern konnten, wütend oder trotzig reagieren und einfach nicht mehr „mitspielen“ wollen.

Du musst jetzt Grenzen setzen!

Und dann pocht der immer gleiche Satz unserer vorangegangenen Gernerationen in unserem Kopf: „Du musst jetzt Grenzen setzen, sonst tanzt er/sie Dir nur noch auf der Nase herum, das kriegst Du nie wieder raus.“ (dazu sage ich: Lieber tanzt Mathilda mir glücklich und ausgelassen auf der Nase herum, als dass sie unglücklich ist und gar nicht tanzt 😉 )

Wieviel Erziehung ist wirklich nötig?

Ich persönlich finde den Begriff Erziehung nicht verwerflich. Beziehung ist ein schönerer Begriff, keine Frage. Aber für mich schließt eine bestimmte Art von „Erziehung“ – nämlich eine bindungsorientierte und bedürfnisorientierte – eine Beziehung keinesfalls aus. Erziehung beginnt früh und das ist richtig und okay. Wir haben Verantwortung und müssen unseren Kindern bestimmtes Werkzeug an die Hand geben, um im sozialen Leben zurechtzukommen. Wir sollten sie anleiten und vor allen Dingen BEGLEITEN. Meiner Meinung nach brauchen Kinder dabei genug Freiraum, Dinge auszuprobieren, Fehler zu machen, zu scheitern, anzuecken, Erfolge zu feiern und Selbstvertrauen zu entwickeln. Wir sollten unseren Kindern viel mehr zutrauen und vor allem auf ihre Fähigkeit zu lernen vertrauen.

Zuckerbrot und Peitsche?

Die Balance zwischen Erziehung und Freiraum ist zweifelsohne nicht immer leicht zu finden. Im Alltag können wir aber ein paar Dinge beachten, um unsere Kinder angemessen zu begleiten, anzuleiten und ihnen gleichzeitig nicht NUR unseren Erziehungs-Stempel aufdrücken. Die folgenden Punkte halte ich daher für sehr sinnvoll:

  • Zuhören und ernst nehmen! Kleine Sorgen können ganz groß sein. Kleine Wehwehchen sollten wir nicht mit einem einfachen „Ist doch nichts passiert!“ abtun und unsere Kinder mit allem, mit dem sie zu uns kommen, ernst nehmen und ihnen aufmerksam zuhören.
  • Sicherheit geben. Wir sollten ihnen zeigen, dass sie mit uns immer und überall sicher sind, dass sie immer zu uns kommen können (auch nachts!) und wir sie bedingungslos lieben. Auch bei Fehlverhalten!
  • Freiraum geben. Besonders Freiraum, zu erkunden, zu erforschen, frei zu spielen und selbst (!) zu wählen.
  • Bedürfnisse hinterfragen. Wir müssen lernen, echte Bedürfnisse (z.B. Nähe, Sicherheit, Entfaltung, Neugier) zu erkennen und herauszufinden, wo diese herkommen.
  • Einen Rahmen geben. Ohne Hilfe sind kinder in manchen Situationen überfordert. Hier müssen wir ihnen anleitend zur Seite stehen. Immer kompromissbereit, immer erklärend und offen für neue Wege. Halt geben und ja, auch Grenzen setzen.

Um auf die große Frage nach dem Glück zu antworten: Nein, in meinen Augen macht Erziehung unsere Kinder nicht unglücklich. Bedürfnisorientierte Erziehung mit viel Liebe, Verständnis, Respekt und auf Augenhöhe ist für mich die Grundlage, quasi der fruchtbare Boden, auf dem unsere Kinder Wurzeln schlagen und später ihre Flügel entwickeln können.

Wie seht Ihr das? Ich freue mich auf Eure Meinungen in den Kommentaren!

5 comments

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Toller Beitrag!!
Ich lese das gerade mit Baby in der Trage auf dem Sofa liegend:) Emma ist 8,5 Monate alt und ich hätte sie bestimmt schon lange ablegen können, aber sie liebt die Nähe und schläft damit tagsüber einfach viel besser. Abends wird gekuschelt bis sie schläft und dann legen wir sie in ihr Beistellbett. Dort schläft sie auch sehr gut. Nachts wird sie zwar manchmal wach, aber dann bin ich ja sofort bei ihr und so schläft sie meistens direkt wieder ein. Ich bin auch der Meinung: zu viel Nähe, Liebe oder Sicherheit gibt es nicht. Die Kleinen wissen was sie brauchen und das sollten wir ihnen auch nicht verwehren:)

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Toller Beitrag. Handhabe es genauso. Ich arbeite als Erzieherin und bekomme von A-Z alle Erziehungsmethoden mit, finde allerdings das auf Instagram oft zu schnell verurteilt wird und Sätze verurteilt werden. Manche Eltern erziehen wirklich Bedürfnisorierntiert und Liebevoll und doch sind sie nur Menschen und ihnen rutschen genau die so Verurteilten Sätze raus.

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Sehr schön geschrieben :). Ich sehe es auch so! Mein Kleiner ist jetzt 2 Monate alt und ich versuche auf all seine Bedürfnisse einzugehen und ihn zu verstehen. Einfach da sein für ihn wenn er mich braucht. Ich habe auch einen Blog, aber finde deine Beiträge immer sehr schön und treffend ;). Liebe Grüße

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Ganz toller Beitrag! Ich finde man kann auch liebevoll Grenzen setzen und Kinder brauchen gewisse Richtlinien. Wenn ich meiner Tochter was nicht erlaube und sie deshalb traurig oder wütend ist, nehme ich sie trotzdem auf den Arm und rede mit ihr, ich sage ihr das ich verstehen kann das sie wütend ist und das es blöd ist und das auch sein darf, bleibe aber bei meinem Standpunkt. Oft ist es ganz schnell inordnung und vergessen.

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